Vorbemerkung
Geographie
Geschichte
die Anfänge
der Schafhof
das Dorf
das 19. Jahrhundert
ein besonderes Gewerbe
das 20. Jahrhundert
die 50er Jahre
Namen
Sprache
Zahlen
Hannikel
Suchen
Kontakt
Impressum&Quellen
Gästebuch
Intern
 


Baden-Württemberg 1952

Entscheidend für die weitere Entwicklung von Lützenhardt werden hauptsächlich zwei Faktoren: einmal die eigenen Anstrengungen der Gemeinde mit dem Ziel, endgültig zu besseren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu kommen, und zum andern die Gründung des neuen Bundeslands Baden-Württemberg durch den Zusammenschluss der bis dahin selbständigen südwestdeutschen Bundesländer Württemberg-Baden, Baden (Südbaden) und Südwürttemberg-Hohenzollern, dessen neue Regierung den festen Willen und glücklicherweise auch die Mittel dazu hat, eine möglichst gesunde und ausgeglichene Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur in allen Landesteilen zu erreichen.

In der Gemeinde sind es vor allem einige unternehmungsfreudige Persönlichkeiten, die neue Ideen entwickeln und entsprechend handeln, insbesondere Bürgermeister Axt und sein Gemeinderat, die erstmals ein realistisches Entwicklungsprogramm formulieren. Dann Pfarrer Drißner, der unermüdlich für die Gemeinde wirbt und seine vielfältigen Beziehungen "nach oben" nutzbringend einsetzt. Nicht zuletzt aber trägt zum schließlich Erfolg aller Bemühungen die erstaunlich lebendige Mitarbeit der ganzen Lützenhardter Bevölkerung mit bei.

Zur gleichen Zeit haben Landtag und Landesregierung erkannt, dass den strukturschwachen Landesteilen vor allem mit finanziellen Mitteln geholfen werden muss. Infolgedessen werden für sie Förderprogramme aufgestellt und Fördermittel des Landes gezielt verteilt. Die ersten Fördergebiete des Landes sind die vier Odenwaldkreise im Regierungsbezirk Nordbaden und der Hotzenwald im Regierungsbezirk Südbaden, danach werden im Regierungsbezirk Südwürtternberg-Hohenzollern 1954 Förderprogramme für die Landkreise Münsingen und Horb ausgearbeitet.

Inzwischen bemüht sich Lützenhardt darum, einen weiteren Industriebetrieb in den Ort zu bekommen, denn das Bürstenmacherhandwerk - wenn auch unterstützt durch inzwischen entstandene Werkstattbetriebe bescheidenen Ausmaßes - und der Vertrieb der Bürstenwaren über den Hausierhandel stellen nun auf die Dauer wirklich keine konkurrenzfähige Existenzgrundlage für die rund 860 der insgesamt etwa 1200 Einwohner mehr dar, die von diesem Erwerbszweig leben. Doch diese Bemühungen sind zunächst vergeblich, obwohl sich auch die Industrie- und Handelskammer in Rottweil dafür interessiert. Lützenhardt scheint als Standort für eine Industrieansiedlung von außen her offensichtlich nicht günstig zu sein. Trotzdem scheint das Jahr 1952 für Lützenhardt ein Jahr mit ersten Lichtblicken zu werden.

Zuerst einmal gibt das zwanzigjährige Jubiläum des Lützenhardter Fußballvereins den Anlass zu einem großen Sportfest. Die Freude ist durchaus berechtigt, weil es wohl hauptsächlich dem Sport zu verdanken ist, dass die Jugend endlich nicht mehr so dazu neigt, zu verwildern, wie das früher üblich gewesen war. Im Oktober kann dann das neu erbaute Schwesternhaus mit Kindergarten und Schwesternstation eingeweiht werden, das die Gemeinde in erster Linie ihrem Pfarrer Drißner verdankt. Und schließlich macht der Bau einer Wasserversorgung, an der sich auch Dornstetten beteiligt, endlich erfreuliche Fortschritte.

Fremdenverkehr

Ein entscheidender Anstoß zur Verbesserung der allgemeinen Verhältnisse in Lützenhardt kommt jedoch von einer ganz anderen Seite her. Theo Dussle, Sohn einer seit über 150 Jahren in Salzstetten und Lützenhardt ansässigen Familie, kehrt aus dem Rheinland zurück ins elterliche Haus, den Gasthof "Hirsch" in der Maierhofstraße, und baut dort aus kleinen Anfängen heraus schrittweise einen leistungsfähigen Fremdenverkehrsbetrieb auf. Als Hotelfachmann hat er erkannt, dass die reizvolle Lage Lützenhardts auf der Grenze zwischen dem offenen Heckengäu und dem Schwarzwald für Erholungssuchende ideal werden könnte.

Einen weiteren Lichtblick für Lützenhardt und das ganze obere Waldachtal stellt der fortgesetzt wachsende Industriebetrieb von Arthur Fischer in Tumlingen dar, der zunächst etwa 150 Arbeitsplätze anbietet, so dass zu erwarten ist, dass mit der Zeit auch Lützenhardter dort Arbeit finden können.

Bürgerversammlung 1953

Im Spätjahr 1953 referiert Bürgermeister Axt erstmals vor einer Bürgerversammlung über die wirtschaftliche Notlage der Gemeinde und über Möglichkeiten einer Abhilfe. Er schlägt vor, folgende Ziele anzustreben:

- Ansiedlung weiterer Industriebetriebe am Ort,

- Änderung der zu engen Gemeindegrenzen,

- Bau eines neuen Schulhauses und Ausweisung weiteren Geländes für den 
  Wohnungsbau.

Die Bürgerversammlung stimmt dem zu, so dass die Gemeinde entsprechend vorgehen kann, um möglicherweise auch staatliche Fördermittel zu bekommen.

1954 gelingt es Willi König, einen "Kurverein Waldach" zu gründen, der die Bemühungen um den weiteren Ausbau des Erholungsverkehrs nach Lützenhardt fördern soll. König, der seinen Beruf als Forstbeamter aus gesundheitlichen Gründen nicht ausüben kann, sieht hier für sich und seine Mitbürger eine lohnende Aufgabe. Allerdings war es ihm nicht vergönnt, den endlichen Erfolg seiner Arbeit noch mitzuerleben. Schon 1956 ist er nach schwerer Krankheit gestorben. Theo Dussle baut den "Hirsch" für den Erholungsaufenthalt von 35 Kurgästen aus und bringt außerdem eine ganze Anzahl von Lützenhardter Familien dazu, Fremdenzimmer in ihren Häusern einzurichten, so dass er dort weitere 70 bis 80 Erholungsgäste unterbringen kann, die er dann auch im "Hirsch" verpflegt. Franz Schweizer betreibt dazu mit seinem Omnibusunternehmen einen Zubringerdienst zwischen Lützenhardt und Köln, der Gäste von dort abholt und dorthin zurückbringt. Um alle diese privaten Leistungen unterstützen zu können, führt die Gemeinde eine "Kurförderungsabgabe" ein, die von allen Gewerbebetrieben erhoben wird, die am Fremdenverkehr beteiligt sind.

Die Bemühungen der Gemeinde um finanzielle Unterstützung durch das Land nach dem Vorbild der Fördermaßnahmen für strukturschwache Gebiete werden vom Landratsamt in Freudenstadt und auch vorn Oberschulamt in Tübingen unterstützt, so dass von dort her Aussicht auf die Genehmigung der Pläne für weiteres Baugelände und den Bau eines neuen Schulhauses besteht. Im Januar 1954 bittet das Landratsamt das Regierungspräsidium in Tübingen, die Gemeinde darüber zu beraten, wie und wo weitere Bauflächen bereitgestellt werden könnten und ob die Gemeinde möglicherweise staatliche Fördermittel bekommen konnte. Das Regierungspräsidium erarbeitet daraufhin zunächst einmal ein Gutachten über die Grunde und das Ausmaß des Notstands der Gemeinde und über die Möglichkeiten, ihn mit staatlicher Hilfe zu belieben, vor allein zur Aufstockung der im Ort bestehenden gewerblichen Kleinbetriebe, zum Bau eines weiteren Industriegebäudes und zur Ergänzung der öffentlichen Versorgungseinrichtungen wie Ortskanalisation, Ausbau der Ortsstraßen und Straßenbeleuchtung. Außerdem schlägt das Regierungspräsidium der Gemeinde vor, an Hand dieses Gutachten zu beantragen, dass das Land Baden-Württemberg die Gemeinde Lützenhardt als "Notstandsgemeinde" anerkennt.

Landesfördergemeinde

Dies tut die Gemeinde im Oktober 1954 mit dem Ergebnis, dass Lützenhardt zur ersten und bis heute einzigen Fördergemeinde des Landes erklärt und von da ab in das "Landesförderprogramm" für die Kreise Münsingen und Horb und die Gemeinde Lützenhardt, Kreis Freudenstadt" aufgenommen wird.

Wenn sich nun auch die nötigen Vorgespräche mit den Behörden und vor allem die Verhandlungen zum Grunderwerb innerhalb der Gemeinde als unendlich mühsam und zeitraubend erweisen, so geht es von jetzt ab doch "Schlag auf Schlag" vorwärts. Bürgermeister Axt, Pfarrer Drißner und der Gemeinderat, allen voran Franz Schweizer, lassen in ihren Bemühungen nicht nach. Unter anderem schreiben sie unmittelbar Ministerpräsident Dr. Gebhard Müller an mit der Bitte um staatliche Hilfe beim Neubau des geplanten Schulhauses. Auf unmittelbare Veranlassung des Ministerpräsidenten besichtigt im Mai 1955 eine Kommission von Regierungsvertretern die Gemeinde und findet dabei die im Gutachten des Regierungspräsidiums dargestellten Notstände bestätigt. Als besonders vordringlich wird der Schulhaus-Neubau erklärt, so dass das Kultusministerium als erste Landesbehörde Fördermittel in Aussicht stellt. Aber auch für den Wohnungsbau erhält die Gemeinde Geldmittel, mit denen sie ein 10-Familien-Haus für schlecht untergebrachte Lützenhardter Familien an der Kirchbergstraße bauen kann. Hierfür und für weitere Wohnhausbauten wird der Ortsbauplan um die Gebiete Sattelacker, Oberes Heufeld und Gunterstall erweitert, und entsprechendes Bauland wird erschlossen.

Schulhausneubau

1956 wird mit dem Neubau des Schulhauses begonnen. Dieses erste größere Bauvorhaben seit dem Kirchenbau von 1905 zusammen mit dem Neubau des Zehn-Familien-Hauses und der Wasserversorgung Lützenhardt-Dornstetten geben den Anstoß dazu, dass in den folgenden Jahren in Lützenhardt mehr gebaut wird als je zuvor. Nach und nach werden 6 Gaststätten aus- oder umgebaut, 13 Fremdenpensionen neu gebaut. Auch der private Wohnungsbau wird lebhafter, wobei etwa 500 Zimmer für Pensionsgäste mitgebaut werden. Ihre Häuser hatten die Lützenhardter immer schon gut instand gehalten, sie waren ihr ganzer Stolz von je her. Nur in der Ortsmitte gibt es noch einzelne der kleinen ehemaligen Taglöhnerhäuser, die sich kaum mehr erneuern lassen. Dadurch, dass nun mit staatlicher Hilfe auch endlich die Ortsstraßen ausgebaut werden, die bis dahin in trostlosem Zustand waren, ändert sich bald das ganze Ortsbild zu seinem Vorteil.

Aber nicht nur das Ortsbild ändert sich. Auch die Lützenhardter, die es vom Bürstenhandel her immer schon gut verstanden hatten, mit Menschen umzugehen, stellen sich jetzt auf den Umgang mit ihren Kurgästen ein und haben damit Erfolg, denn die Zahl der Übernachtungen steigt von Jahr zu Jahr. Zwei Neubauten, die eigentlich auf Grund dessen, dass sie ganz aus den in Lützenhardt gegebenen Voraussetzungen heraus geplant wurden, können wegen der zu engen Gemeindegrenzen nur auf Gemarkung Vesperweiler durchgeführt werden, nämlich das "Schwarzwaldsanatorium" und das Sanatorium Dr. Weiß. Das erstere übernimmt bald nach der Fertigstellung Theo Dussle, baut es weiter aus und führt es als Hotel "Sonnenhof" weiter.

Allmählich bessert sich die allgemeine wirtschaftliche und auch soziale Lage der Gemeinde und ihrer Bürger. 1957 gehen schon 127 Lützenhardter als Pendler in auswärtige Betriebe zur Arbeit, haben also ein festes Einkommen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Bürstenmacher und Hausierer ab.

Im September 1957 wird das neue Schulhaus festlich eingeweiht. Viele auswärtige Gäste nehmen teil, auch Ministerpräsident Dr. Gebhard Müller ist mit dabei. Kurz danach kann die Wasserversorgung Lützenhardt-Dornstetten eingeweiht werden: in Dornstetten wie in Lützenhardt wird jeweils ein großes "Wasserfest" veranstaltet.

Am Ende der Fremdenverkehrs-Saison 1957/58 zählt man in Lützenhardt 32000 Übernachtungen, ein großer Teil davon sind solche in Privatzimmern. Nach einer so erfreulichen Bilanz des Jahres 1957 ist es nicht verwunderlich, dass Rudolf Axt 1958 für weitere 12 Jahre wiederum zum Bürgermeister gewählt wird.

Bericht über Lützenhardt von 1957

Unmittelbar aus der damaligen Situation heraus wurde seinerzeit ein Bericht über

Lützenhardt veröffentlicht vor allem in der Absicht, althergebrachte Vorurteile gegen diese Gemeinde auszuräumen "1)". Darin heißt es unter anderem:

"1)" Gerhard Sonnenberg: "Plädoyer für Lützenhardt" in "Schwäbische Heimat", Zeitschrift des Schwäbischen Heimatbundes, S. 176 ff., Stuttgart, Oktober 1957. "...So, wie der Bürstenhandwerker und gleichzeitig hausierende Bürstenhändler im Grunde nicht in unsere Welt der Industriebetriebe, der Warenhäuser und Spezialgeschäfte hinein passt, so wenig passt das Dorf Lützenhardt in die Nachbarschaft der Bauerndörfer des oberen Waldachtals, etwa 15 km ostwärts von Freudenstadt. Unter den rund 1200 Einwohnern ist kein einziger Bauer. Die Gemeindemarkung umfasst auch nur 94 Hektar, während die Nachbargemeinden alle über mehr als 500 Hektar verfügen. Hier und da verläuft die Markungsgrenze so dicht hinter den Häusern, dass nicht einmal mehr Raum für einen Hausgarten verbleibt. Der schöne Wiesengrund mitten im Dorf bildet sogar eine Exklave eines der Nachbardörfer. Etwa 60 von Hundert aller Haushaltungen leben vom Bürstenmacherhandwerk und Hausierhandel ....

Seinerzeit hatte der Grundherr im Jahre 1750 zwar einer Anzahl Menschen eine Heimat gegeben, hatte aber nicht zugleich für genügende Erwerbsgrundlagen gesorgt und hatte nicht daran gedacht, dass sich die Einwohnerzahl auch einmal vergrößern könnte. Zwar hatte jeder Lützenhardter seine Arbeit, aber es fehlte ihm der nahe Markt, den der städtische Handwerker hatte. Daher musste er sich selbst von Zeit zu Zeit auf die Reise begeben, um sich seinen Markt als Hausierer zu suchen, währenddes das Handwerk stillag. Aus dieser Frühform der Industrie ist wohl zumeist auch anderswo unsere heutige Industrie erwachsen, nur blieb sonst im allgemeinen neben der neuentstandenen Industrie die Landwirtschaft erhalten - größtenteils ja noch bis auf den heutigen Tag - um, wenn nötig, auch einmal als alleinige Existenzgrundlage die Familie über Wasser zu halten. In Lützenhardt hat es aber nie diese Landwirtschaft als Ernährungshilfe und Krisensicherung gegeben. Der um die Reisekosten noch geschmälerte Arbeitserlös musste immer ausreichen. Von je her sind hier deshalb nicht nur die Männer voll berufstätig gewesen, sondern so gut wie alle Familienmitglieder von der Schulentlassung ab. Auch heute sind noch mehr als 80 vom Hundert aller Einwohner berufstätig! Die Frauen konnten nicht das "normale" Leben im Hause und auf dem Felde führen und die Kinder aufziehen. Diese wuchsen die meiste Zeit unter der Aufsicht der Daheimgebliebenen Alten oder Arbeitsunfähigen, hauptsächlich natürlich auf der Straße auf. Ihre Berufsarbeit brauchte keine Lehrzeit: sie war ein scheinbar ungebundenes Umherreisen voller Abwechslung und Erlebnisse für den geschickten Händler, im Gegensatz dazu aber auch oft genug ein demütiges Betteln mit der beständigen Angst vor der Heimkehr ohne ausreichenden Verdienst für den weniger Gewandten. So entstand mitten im schwäbischen Bauernland des 19. Jahrhunderts ein ganz besonderer Menschenschlag, eben die "Lützenhardter".

... Sie waren immer ein isoliertes "Stadt"-volk ohne Stadt im Bauernland. Alle Nachteile der Stadtbevölkerung haften ihnen an, während ihnen die mannigfaltigen Vorteile des Lebens in der Stadt nicht geboten sind, die des bäuerlichen Lebens auf dem Lande aber auch nicht! Bemerkenswert ist die Lebenskraft, welche bis auf den heutigen Tag in der Gemeinde steckt. Im Jahre 1871 hatte sie bereits 446 Einwohner, also ebenso viele oder noch mehr Einwohner als die alten bäuerlichen Nachbargemeinden. Deren Einwohnerzahl stieg seither um etwa 40 bis 50 vom Hundert, diejenige von Lützenhardt in der gleichen Zeit um etwa das Dreifache. Von einer blühenden Industriegemeinde sind wir solches Wachstum gewohnt. Lützenhardt ist aber im wesentlichen immer noch das alte Handwerker- und Hausiererdorf geblieben.

Konnten sich aber die Lützenhardter bis vor kurzem immer noch schlecht und recht ernähren, so haben sich in neuester Zeit die Verhältnisse für die Bürstenhandwerker so stark zu ihren Ungunsten verändert, dass ihnen zum Leben fast nichts mehr übrig bleibt. Industriell hergestellte Bürstenwaren, zu einem großen Teil aus Kunststoffen, zahlreiche staatlich subventionierte Blindenwerkstätten für Bürstenherstellung sowie der allgemein selbstverständliche Warenvertrieb durch Groß- und Einzelhandel lassen die Lützenhardter Ware zu teuer werden, Bittere Not und Hoffnungslosigkeit drohten das Dorf zu einem einzigen Armenhaus werden zu lassen .... Nur vier kleinere Bürstenfabriken, eine Kleiderfabrik und einige Unternehmen außerhalb der Bürstenbranche haben ihr befriedigendes Auskommen. Das Durchschnittseinkommen der Bürstenmacher und Hausierer beträgt nicht mehr als 130 DM monatlich. Auf derartig geringe Einkünfte sind rund 60 vom Hundert der Haushaltungen angewiesen. Die kleine Markung erlaubt keine geordnete bauliche Entwicklung, ja, überhaupt kein rationelles Wirtschaften der Gemeinde. Die Felder werden fast ausschließlich von auswärtigen Landwirten in Eigentum oder Pacht bewirtschaftet. Steuergelder gehen fast nicht ein, die finanziellen Verhältnisse der Gemeinde sind entmutigend.

Wer aber, noch die letzten Berichte über den Notstand der Gemeinde im Ohr, einmal von Dornstetten her kommend zwischen Hörschweiler und Tumlingen ins Waldachtal eintritt und das Dorf vor sich sieht, wird zunächst überrascht sein. Eine schmucke "Arbeiterwohngemeinde" könnte man es nennen, ohne Ställe und Scheuern, ohne Dunglegen, nicht anders, wie wir es von den Außengebieten unserer größeren Städte her kennen. Manche der fast durchweg gut instand gehaltenen Häuser könnten ebenso gut in Freudenstadt stehen. Jedenfalls widerspricht dies allem missgünstigen Gerede über die angeblich schlechten Eigenschaften der Lützenhardter, "denen nur das Umherziehen im Blut liege" und dergleichen mehr. Am Ortseingang ein Transportunternehmen mit Kraftwagenhallen, eine Möbelfabrik. Auf halber Höhe die ansehnliche Kirche, ein neuer Kindergarten, ein Schulhausneubau, noch im Entstehen begriffen, ein weiteres Fabrikgebäude, und etwas abseits sogar ein soeben fertiggestelltes Sanatorium. Am oberen Ortsrand ein Café, ein Reihenhaus-Neubau für 10 Familien. Die Gastwirtschaften sind fast durchweg neu ausgebaut und gut geführt.

Der Zustand der meisten Ortsstraßen allerdings - die Hauptstraße wurde als Landstraße vom Lande Baden-Württemberg instand gesetzt -, die fehlende Straßenbeleuchtung, die mangelhafte Wasserversorgung, die weithin fehlende Entwässerung, der Zustand des Friedhofs und des so bescheidenen, fast baufälligen Rathauses und noch viele andere Dinge, sie reden die deutliche Sprache von der Armut der Gemeinde . ...

Wie erklären sich diese offensichtlichen Widersprüche? Landwirtschaftliche Nutzfläche haben sie nicht, die Lützenhardter, aber ihr Hausbesitz ist dafür ihr Ein und Alles, ihre Heimat und Zuflucht. Das Haus wird gehegt und gepflegt, so klein es immer sein mag. Und klein sind die meisten der Häuser für die im allgemeinen kinderreichen Familien. Die Wohnraumnot ist groß. Selbst wenn einer das Geld hatte zum Bauen, so fände er doch so leicht keinen Bauplatz, weil es die Enge der Markung kaum erlaubt. Diese unglücklichen Grenzverhältnisse, durch zwei Jahrhunderte nun schon mit durchgeschleppt und für einen gesunden Menschenverstand schwer zu begreifen, schreien geradezu nach Bereinigung. Zahlreiche Anwesen gehören zwar wirtschaftlich zu Lützenhardt und profitieren von seinen kommunalen Einrichtungen, so beispielsweise einige Bauernhöfe und Einzelhandelsgeschäfte, die Möbelfabrik und das Sanatorium, aber sie stehen auf Nachbarmarkungen, und ihre Steuern kommen fremden Gemeinden zugute. Noch gibt es im Ort kaum Arbeitsplätze, die einen Ersatz für das wenig einträgliche Bürstenmacherhandwerk bieten könnten. Für eine Anzahl Frauen fand sich in den dreißiger Jahren ein Textilbetrieb. Aber den Bürstenmachern fehlte es bisher noch an allem, was zum Aufbau einer eigenen Industrie nötig war. Trotzdem sind einige kleinere Betriebe entstanden, die aber, da sie noch in den Anfangsgründen der Rationalisierung stecken, bis jetzt erst wenige Arbeitsplätze für Männer anbieten.

Mit sinkendem Einkommen gerät auch die moralische Haltung der Menschen leichter ins Wanken.... Die Soziallasten der Gemeinde, die sowieso kaum Steuergelder bekommt, steigen von Tag zu Tag, denn von den Bürstenmachern und -händlern ist ja kaum einer kranken- oder rentenversichert. Ein rechter Kindergarten fehlte bis vor kurzem, die Schule war überbelegt, und die soziale Not wirkte sich bereits unmittelbar auf die Kinder aus. Zwar konnten Gemeinde und katholische Pfarrgemeinde miteinander noch die Mittel für den neuen Kindergarten aufbringen, aber ein Schulhausneubau stand außerhalb jeder Möglichkeit. Auch die Aufsichtsbehörden hatten sich damit abgefunden, dass Lützenhardt eine Almosengemeinde sei und für immer bleiben werde.

Da besann sich die Gemeinde auf ihre eigenen Kräfte. Das Programm war nicht eben klein.... Woran man aber im Dorf und auch draußen zuletzt gedacht hatte, von dort her kam der eigentliche Anstoß: vom Fremdenverkehr. ....Zwar sind die Verdienste für den Einzelhaushalt nicht übermäßig groß, aber es kam neues Leben ins Dorf und die Umwelt wurde wach. Manche D-Mark, die vorher für Lützenhardt selbstverständlich zu schade gewesen wäre, ist inzwischen dort investiert worden. Die Anstrengungen der Gemeinde und ihr Gesundungsprogramm bewirkten auch, dass ein Appell an die Regierung nicht umsonst war. Man nahm sich die Mühe, einmal die altgewohnten Vorurteile fallen zu lassen und den Tatsachen nachzugehen....

Noch ist aber die Not nicht behoben. Noch immer leben die weitaus meisten Haushaltungen vom Bürstenmacherhandwerk und Hausierhandel, noch ist die Schuldenlast der Gemeinde übergroß. Auch kann der Fremdenverkehr eines Tages aufhören, wenn die Unberechenbarkeit der Weltwirtschaft oder die Politik es will. Wer es aber miterlebt hat, wie diese Gemeinde plötzlich Mut bekommen hat und Glauben an sich selber, der hat das Gefühl, dass hier eine Krise überwunden wurde, und dass der erste Schritt zur Gesundung bereits getan ist ....

Soweit der Situationsbericht von 1957.

 Rathausbau 1959

Nach dem Umzug der Schule in das neue Gebäude am Schulberg kann das alte Schulhaus zum Rathaus umgebaut werden. 1959 zieht die Gemeindeverwaltung dort ein, und das alte Rathaus, das inzwischen reichlich baufällig ist wird abgebrochen, um einem Kaufhaus und der geplanten Verbreiterung der Hauptstraße Platz zu machen. 50 Jahre lang hat der bescheidene kleine Bau seinen Dienst als Rathaus getan, heute haben ihn selbst die Lützenhardter fast schon vergessen.

In das später abgebrochene sogenannte "kleine Schulhaus", das einmal als Schulhauserweiterung neben das eigentliche Schulhaus gebaut worden war, zieht der Filialbetrieb einer elektrotechnischen Fabrik aus Stuttgart ein. Er beschäftigt 30 Frauen, denen damit willkommene Verdienstmöglichkeiten am Ort gegeben werden.

Kurort Lützenhardt

Mit dem allmählichen Wandel der Gemeinde Lützenhardt von der Bürstenmacher- und Hausierergemeinde zum Kurort ändert sich auch das Verhältnis zwischen Lützenhardt und den Nachbargemeinden, das in der Vergangenheit zuweilen etwas gespannt war. Schon der Bau der gemeinsamen Wasserversorgung Lützenhardt-Dornstetten hatte gezeigt, dass man sehr wohl mit Lützenhardt zusammengehen kann. Lützenhardt als Kur- und Erholungsort konnte sich zunächst allerdings keiner so recht vorstellen. Nachdem aber die Übernachtungsziffern in Lützenhardt von Jahr zu Jahr höher wurden, nehmen auch die Nachbargemeinden Cresbach und Tumlingen gern an der Anziehungskraft Lützenhardts und damit des Waldachtals teil. Cresbach vor allem deshalb, weil in seinem Teilort Vesperweiler das Hotel "Sonnenhof" steht und der Gemeinde Cresbach nicht unerhebliche Steuern einbringt, und weil sich dort immer mehr Bürger ansiedeln, die in Lützenhardter Fremdenverkehrsbetrieben beschäftigt sind. Und die "Orts- und Kirchenchronik Tumlingen-Hörschweiler" vermeldet, dass Tumlingen im Jahre 1957 ein Luftkurort geworden sei, und dass im "Löwen", in einer Fremdenpension und in einigen Privathäusern Kurgäste aufgenommen würden.

Ganz wesentlich tragen zur Anziehungskraft von Lützenhardt als Kur- und Erholungsort die von dort ausgehenden regelmäßigen Ausflugsfahrten des Omnibusunternehmens Schweizer bei. Der plötzliche Tod von Franz Schweizer im Jahre 1960 bedeutet einen schweren Verlust für die Gemeinde, denn er hatte durch seine unermüdliche Schaffenskraft und seinen langjährigen Einsatz als Kreisrat wesentlich zur Gesundung der Gemeinde beigetragen.

Die für das obere Waldachtal neuartige Zusammenarbeit der Gemeinden für den Fremdenverkehr führt 1959 unter anderem auch dazu, dass eine gemeinsame Kläranlage unterhalb von Vörbach im Waldachtal geplant wird, zu deren Kosten das Land einen Sonderzuschuß geben will. 1963 tritt Lützenhardt zusammen mit Tumlingen, Hörschweiler, Cresbach und Durrweiler dem Zweckverband "Abwasserbeseitigung Oberes Waldachtal" bei. Die Fördermittel des Landes ermöglichen auch, dass endlich die Ortsstraßen ausgebaut werden und dass eine neuzeitliche Straßenbeleuchtung angelegt wird. Außerdem wird die Waldach entlang der Hauptstraße so verlegt, dass der lange gehegte Plan einer Gartenanlage gegenüber dem Rathaus verwirklicht werden kann. Schließlich wird die Landstraße nach Salzstetten hinauf neu verlegt, und die alte Landstraße mit ihrer starken Steigung beim Friedhof, die heutige Friedhofstraße, kann als Ortsstraße bebaut werden.

Pläne und Erfolge

Noch immer hat Lützenhardt keinen brauchbaren Flächennutzungsplan, der für einen längeren Zeitraum die künftige Nutzung der innerhalb der Gemeindegrenzen verfügbaren Flächen zeigen soll, beispielsweise für die landwirtschaftliche Nutzung, die Wohnbebauung, für öffentliche Bauten und Anlagen, Verkehrsflächen, Parkplätze und dergleichen. Der Entwurf eines solchen Plans, den seinerzeit das Regierungspräsidium in Tübingen 1958 gemacht hatte, zeigte deutlich, dass eine vernünftige Gemeindeplanung nicht möglich ist, wenn sie auf die viel zu kleine Gemarkung von Lützenhardt beschränkt bleibt. Ein Plan wäre vielmehr notwendig, der alle vier nahe beieinanderliegenden Gemeinden im oberen Waldachtal umfasst und der dann möglicherweise auch Vorschläge für eine sinnvolle Änderung der Gemeindegrenzen zum Nutzen aller beteiligten Gemeinden enthalten sollte.

Unter diesen Voraussetzungen geben 1963 die Gemeinden Tumlingen, Hörschweiler, Lützenhardt und Cresbach einen gemeinsamen Flächennutzungsplan in Auftrag. Die nun folgende intensive Zusammenarbeit der Gemeinden, des Landratsamtes, der Sonderbehörden im Kreis und des Planers führt zu vielerlei gemeinsamen Entscheidungen, vor allem aber zu freiwilligen Änderungen der Gemeindegrenzen, die geeignet sind, Lützenhardt für seine weitere Entwicklung als Kur- und Erholungsort den notwendigen Raum zu verschaffen. Wichtigstes Ergebnis für Lützenhardt ist der Gemeindegrenzausgleich im Gebiet "Schalhofäcker", welcher es erlaubt, hier das spätere Baugebiet oberhalb der Willi-König-Straße und der Straße nach Salzstetten zu erschließen.

1963 hat Lützenhardt 1435 Einwohner, etwa 350 Einwohner mehr als 1954. Davon sind 699, also 47%, erwerbstätig, und zwar 285 in Lützenhardt selbst, größtenteils für den Fremdenverkehr, daneben aber auch noch in der Bürstenbranche. 210 sind als selbständige Hausierer, 40 als selbständige Handelsvertreter und 164 als Auspendler zeitweilig oder auch längerfristig außerhalb Lützenhardts berufstätig. Die Bürstenmacher und Hausierhändler stellen aber noch 30% der Erwerbspersonen dar, 1954 waren es noch 72% gewesen. Auf der anderen Seite hat sich der Anteil der Fach- und Hilfsarbeiter seit 1954 von 18% auf 50% der Erwerbspersonen erhöht, und der Anteil der selbständigen Gewerbetreibenden von 7% auf 16%. Diese Zahlen zeigen, wie sich die Bevölkerungs- und Erwerbsstruktur in Richtung auf ein festes Einkommen verändert hat, so dass Lützenhardt auf dem Wege ist, eine durchaus "normale" Gemeinde zu werden. Damit bessern sich endlich auch die Vermögensverhältnisse der Gemeinde, da sie von jetzt ab mit regelmäßigen Steuereinkünften rechnen kann.

Nachdem in der Fremdenverkehrs-Saison 1963/64 über 70000 Kurgäste Lützenhardt besucht haben, führt die Gemeinde eine Kurtaxe ein, um den wachsenden Anforderungen für den Kurbetrieb künftig entsprechen zu können, zumal sich Lützenhardt immer mehr zum ausgeprägten Kurort hin entwickelt. Das Hotel "Sonnenhof" wird zum Kursanatorium ausgebaut, und die einstige Pension "Schwarzwaldklause" zum vollwertigen Kurhotel mit 120 Betten. 1969 bringt es Lützenhardt auf 100000 Übernachtungen.

1970 kommt noch einmal eine größere Baumaßnahme auf Lützenhardt zu, die eine Zeitlang Unruhe und Unbequemlichkeiten bringt, nämlich der Ausbau der Hauptstraße und der Kirchbergstraße als Ortsdurchfahrt der Kreisstraße nach Cresbach hinauf. Die Straßen werden verbreitert, Stützmauern werden gebaut und bei der "Sonne" wird eine großzügige Straßeneinmündung in die Landesstraße nach Dornstelten und Salzstetten angelegt, wobei das alte Eckhaus abgerissen wird, eines der ältesten Häuser von Lützenhardt, das zuletzt zum Café Schmid ausgebaut worden war. Lützenhardt bekommt dadurch seinen heutigen repräsentativen Ortseingang von Süden her, der vorher viel zu eng gewesen war.

1974 verlässt Pfarrer Drißner seine Gemeinde, die er 27 Jahre hindurch betreut hat, und tritt in den Ruhestand. Pfarrer Rathgeber, übrigens ein Schüler von Pfarrer Merkle, der von 1935 bis 1946 Pfarrer in Lützenhardt war, folgt ihm nach. 1970 wird Rudolf Axt zum dritten Mal als Bürgermeister wiedergewählt.

Verwaltungsreform

Mittlerweile hat die Landesregierung eine umfassende Verwaltungsreform für das ganze Land vorbereitet. Sie bringt zunächst für 1973 eine Kreisreform, auf Grund deren die bisherigen Kreise Freudenstadt und Horb in einen größeren Kreis Freudenstadt aufgehen. Damit ist Lützenhardt nun nicht mehr die einzige Gemeinde in ihrem Kreis mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Und am 20. Juli 1973 wird eine "Zielplanung" der Landesregierung für die Neuabgrenzung der Gemeinden des Landes verwirklicht, die in der Hauptsache auf' eine sinnvolle und zweckmäßige Zusammenfassung mehrerer kleinerer Gemeinden zu künftig größeren Gemeinden hinzielt.

Gemeinde Waldachtal

Auf Grund dieser Zielvorstellungen schließen sich 1974 die Gemeinden Tumlingen, Hörschweiler, Lützenhardt, Cresbach und Salzstetten zur neuen Gemeinde "Waldachtal" zusammen. Ein Bürgermeister für die Gesamtgemeinde wird gewählt, und für die fünf Teilgemeinden werden ebenso viele Ortsvorsteher gewählt. Ortsvorsteher für die Teilgemeinde Lützenhardt wird der letzte Bürgermeister der alten Gemeinde Lützenhardt, Rudolf Axt.

Damit ist die zweifellos einmalige Entwicklung der selbständigen Gemeinde Lützenhardt vom Einzelhof über die Tagelöhner-, Bürstenbinder- und Hausierergemeinde zur Fremdenverkehrsgemeinde einstweilen abgeschlossen. Es war ein zweihundert Jahre langer verzweifelter Existenzkampf der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, der politischen Gemeinde und der Pfarrgemeinde Lützenhardt, die dann doch im Laufe von zwanzig Jahren aus eigener Initiative heraus die Voraussetzungen dafür geschaffen hat für das, was sie heute ist: ein lebens- und liebenswerter Erholungsort für zahllose Kurgäste und eine beneidenswerte Heimat für ihre Bürger.


Wie sich diese verhältnismäßig kleine Gemeinschaft aus bitterster wirtschaftlicher und sozialer Not mit eigener Kraft gegen alle Missgunst, Verleumdung und Vorurteile herausgearbeitet hat, das verdient Bewunderung, und wir können sie deshalb mit Recht eine ganz besondere Gemeinde nennen.

Top